Predigt zu Hebräer 13, 12-14

Der Menschensohn ist nicht gekommen, dass er sich dienen lasse, sondern dass er diene und gebe sein Leben als Lösegeld für viele. Mt. 20, 28

Liebe Schwestern und Brüder,

Sonntag Judika, 5. Sonntag in der Passionszeit, „Herr, schaffe mir Recht“ – Ps. 43,1.
Wir stehen fast am Ende der Passionszeit. Es folgen noch der Palmsonntag und dann erreichen wir mit dem Karfreitag quasi den Tiefpunkt des Passionsgeschehens. Für den heutigen Sonntag sind uns für unser Nachdenken Worte des Hebräerbriefes auf den Weg gegeben, mit denen wir an die Geschichte Jesu erinnert werden sollen, verbunden auch mit der Frage: Wie steht es um das Recht, die Gerechtigkeit?

Hebr. 13, 12-14:
Darum hat auch Jesus, damit er das Volk heilige durch sein eigenes Blut, gelitten draußen vor dem Tor.
So lasst uns nun zu ihm hinausgehen aus dem Lager und seine Schmach tragen.
Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Als junger Mann habe ich ein Buch des jungen Hamburger Schriftstellers Wolfgang Borchert in die Hände bekommen. „Draußen vor der Tür“ lautete der Titel. 1946, kurz nach dem 2. Weltkrieg geschrieben, schilderte Borchert die Rückkehr eines Soldaten in seine zerstörte Heimatstadt Hamburg. Auch der Soldat war zerstört, körperlich und seelisch. Und ihn trieben vielen Fragen um. Wer hat die Schuld an diesem großen Elend? Antworten erhielt er keine. Keiner fühlte sich verantwortlich. Die Geschichte ist eine Fiktion, aber in ihr beschrieb Borchert seine eigenen Empfindungen und Erlebnisse.
Borchert starb wenig später als 26jähriger 1947 in der Schweiz, gezeichnet von den Entbehrungen des Krieges.

Der Schreiber des Hebräerbriefes kennt die überlieferten Geschichten von Jesus. Und so formuliert er zeugnishaft, was ihm bedeutsam geworden war. Die Zeugnisse von der Kreuzigung Jesu waren für ihn das „Draußen vor dem Tor“. Das war eigentlich der Platz für die Abfälle einer Stadt. Dort hatten die ansteckend Kranken zu leben. Dort war auch der Platz für Hinrichtungen. Dort also litt Jesu und starb. Überdeutlich war: Er war ein Unschuldiger. Er passte nicht in die Frömmigkeitsvorstellung seiner Zeit und eckte damit an. Und nachdem genügend Schmutz gegen ihn gesammelt wurde, wurde er zum Sündenbock gestempelt und gekreuzigt. Das Ritual war ja bekannt. Anlässlich des jüdischen Versöhnungsfestes wurde ein tierischer „Sündenbock“ im Tempel geopfert als Zeichen der Versöhnung mit Gott. Jetzt geschah das nicht im Tempel, sondern draußen vor dem Tor.
An diesem unwirtlichen Ort vollendete sich der Weg Jesu. An einem Ort, wo keiner leben und wohnen möchte. Wo man seine Blicke abwendet – draußen eben.

Draußen vor dem Tor“ beschreibt eine Grenze. Es gibt ein Innen und ein Außen. Für mich ist erschreckend, dass diese Grenzziehungen zu allen Zeiten möglich waren und blieben. Dabei geht es nicht um irgendeine Grenze, sondern um die Abgrenzungen vor dem geschehenden Unrecht, dem Schmerz, der Armut, der Lebensangst. Das lagert vor unseren Toren.
Was erleben wir in diesen Tagen? Da sind scheinbar die Tore aufgerissen und von draußen kommen gefährliche Viren herein. Ja, das Draußen kommt nach Drinnen. Es erschreckt uns sehr. Wir erleben eine Hilflosigkeit, die keiner für möglich gehalten hätte. Könnte es eine Zeit sein, in der uns Gott an seine Gerechtigkeit erinnert, die wir bislang so vernachlässigen?

Lasst uns so in großer Demut erneut die Worte des Hebräerbriefes hören. Lasst uns über Grenzen gehen, zu IHM also, und im Zeichen des Kreuzes leben lernen, die Schmerzen ertragen, der Abschottung widersprechen, die Passion Jesu üben.

Es tut mir trotzdem in der Seele leid, lieber Bruder vom Hebräerbrief: Ich möchte eigentlich nicht so radikal leben. Oder doch, wenigstens ein stückweit? Wir haben so vieles vergessen, z. B. aus unserer deutschen Geschichte! Dietrich Bonhoeffer, unser evangelischer Bruder, hat sich nach draußen begeben mit tödlichen Folgen für ihn. Lange Zeit wurde er missverstanden und auch in seiner eigenen Kirche moralisch verurteilt, obwohl man den Hebräerbrief kannte.

Unser Predigttext endet mit „Denn wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.“ Gut, dass sich das anschließt. Das klingt für mich wie ein Wegweiser. So begeben wir uns auf die Suche, auf einen Weg. Wir bleiben nicht in unserer Gegenwart stehen, nicht in der behaglichen Bleibe. Wir versuchen, auf das Zukünftige hin zu leben. Dabei sind wir immer Suchende und dabei werden wir auch finden.
Für die jungen Christen zu Zeiten unseres Schreiberbruders war das Zukünftige immer schon angebrochen, denn sie wussten von dem so unfassbaren Geschehen des neuen, so ganz anderen Lebens Jesu. Sein Draußen vor dem Tor war der oder ein Weg, der ganz eng mit Gottes Herrlichkeit verbunden ist. Wo unsere Herrlichkeit unendlich weit entfernt scheint, wartet Gottes Herrlichkeit auf uns.

Amen!

Klaus Straka