Andacht zu Psalm 77

Ich denke an Gott – und bin betrübt; ich sinne nach – und mein Geist verzagt.

Psalm 77,4 – Link zum kompletten Psalm 77

Menuett, Johann Fischer (Flöte und Fagott: M. Schneider)
http://www.emk-halle.de/wp-content/uploads/2020/05/2020-05-16_menuett.mp3

Glaube kommt aus Erfahrung: Wir haben Bewahrung erlebt, Gebete wurden erhört, Gemeinschaft hat uns gestärkt und getröstet. Erweckungen haben die Gemeinden wachsen lassen. Das Wunder von Jericho hat sich vor unseren Augen ereignet: eine sehr reale Mauer ist zusammengebrochen durch Kerzen und Friedenslieder.
Nur – wir machen auch ganz andere Erfahrungen. Unser Herr hat uns nicht verheißen, uns alle Steine aus dem Weg zu räumen. Auch zum Leben eines Christen gehören Zeiten der Krankheit, des Misserfolgs, der Anfechtung, Abschied von Menschen, die wir lieben. Dann braucht unsere Erinnerung den Halt aus dem Glauben, sonst gerät sie schnell zum wehleidigen Rückblick auf die „gute alte Zeit“, in der alles besser war und wir kreisen endlos um die Frage „Warum gerade ich?“
Auch dem Psalmbeter bereitet diese Frage schlaflose Nächte, bis er von der Oberfläche der Erinnerung zur Tiefe vorstößt. Er erkennt: Der Gott, der so Großes getan hat, ist in guten wie in schweren Tagen an unserer Seite. Glauben heißt: ihm vertrauen, was auch kommen mag. Mit solchem Glauben führt Erinnerung nicht nostalgisch in eine verklärte Vergangenheit, sondern prophetisch in die Zukunft, die Gott für uns bereithält. Glaube heißt nicht: „Gott wird das schon machen“, sondern vielmehr: „Wir haben die ganze Nacht gefischt und nichts gefangen. Aber auf dein Wort hin wollen wir unser Netz auswerfen“ (Lukas 5,5) – auch gegen den Augenschein.

Ulrich Meisel

Aber eines weiß ich fest: dass mein Gott, der seine Treue täglich mir erwies aufs Neue, sich auch morgen finden lässt.

Rudolf Lehmann-Filhes (1854-1914) aus: Gib mir Kraft für einen Tag